Atlantic: Die Bastert-Werke Bielefeld, Vespa und ein Passagierschiff…


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Die 1950er Jahre waren die Zeit des MotorRoller-Booms. Enrico Piaggio hatte nach Kriegsende in Italien den Bedarf an preiswerten Transportmitteln richtig eingeschätzt und die Vespa 1946 vorgestellt. Es wurden Schubkarrenräder verbaut, den Antrieb lieferte ein aus der Rüstungsproduktion verbliebener Flugzeug-Anlassermotor, auch die Blechpressen waren aus der Rüstungsproduktion verblieben. Vespa und Lambretta liefen in Italien reichlich vom Band und dominierten auch hierzulande bereits die Kurzstrecke auf den Straßen, als man in Deutschland 1950 damit begann, einen komfortablen Reise-Roller mit integrierter Windschutzscheibe, Motorradrahmen und Kofferräumen zu entwickeln, um dem Drang nach Urlaubsreisen ans Mittelmeer ein passendes, allerdings teures Vehikel zu liefern.

Es waren die Bastert-Werke in Bielefeld, die nach hohen Entwicklungskosten 1951 mit dem Einspurauto  einen dermaßen hochwertigen Tourenroller auf den Markt brachten, dass er in Werbeannoncen als “Rolls Royce unter den Rollern” angepriesen wurde. Das Konzept MotorRoller war nun im Nachkriegsdeutschland gleich ins Hochpreissegment übergesiedelt – wohl einige Jahrzehnte zu früh. Der große Erfolg blieb damals aus, ebenso wie für das MaicoMobil. 1956 wurde die Zweiradproduktion bei Bastert komplett eingestellt, man stieg um auf Kunststoffverpackungen, 1987 endete die Unternehmensgeschichte ganz.

Bastert hatte bis 1956 auch Fahrradrahmen hergestellt, und war, wie Piaggio, während des Kriegs Rüstungszulieferer.

Dass es diese Verbindungen zwischen meinem Atlantic-Rad und einem recht kleinen ehemaligen Bielefelder Unternehmen gab, war mir über 20 Jahre lang nicht bekannt.

Ich habe seit 1993 oft gerätselt wo und wie das Design des Steuerkopfschildes einzuordnen ist:

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Ob dabei tatsächlich ein Schiff namens “Atlantic” Pate stand?

Ich fand heraus, dass es in den 1950er Jahren die SS Atlantic gab, ein 1953 fertig gestelltes amerikanisches Frachtschiff, das in der Geschichte des Bastert-Fahrradbaus jedoch sicher keine Rolle gespielt hatte. Das Schiff wurde erst 1958 auf Passagierbetrieb umgebaut, es lief zuvor unter dem Namen SS Badger Mariner.

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Auch wenn die Ähnlichkeit des Schiffs zum abgebildeten Dampfer auf dem Steuerkopfschild des Bastert-Rads recht verlockend erscheint, um weiter zu denken: Zu der Zeit, als die SS Atlantic begann zwischen New York und Antwerpen zu verkehren, wurden in Bielefeld bei Bastert bereits keine Fahrräder mehr produziert. Das Steuerkopfschild gab es bereits 1939.

Eventuell haben eher die Transatlantik-Reedereien wie z.B. die französische Compagnie Générale Transatlantique mit ihren Werbeplakaten die Vorlage für die Steuerkopfschild-Optik der Bielefelder Atlantic geliefert:

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Sämtliche großen Transatlantic-Reedereien hatten allerdings gemäß den im Netz verfügbaren Listen damals (in den 1930er bis 1950er Jahren) kein Schiff unter dem Namen Atlantic auf See. Wieso also dieser Name für ein Fahrrad? Das Rätsel blieb bestehen…

Interessant wurde letztlich die Entdeckung, dass das Einspurauto von Bastert bereits in den Jahren 1921 bis 1922 einen Vorläufer kannte: den in der Berliner Atlantic AG für Automobilbau produzierten Einspurwagen. Angepriesen wurde er von Berlin aus charmant als “das kleinste und billigste Automobil der Welt” – womit wir doch wieder bei der Idee der Vespa als preisgünstiges Transportmittel angelangt sind.

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Damit scheint zumindest das Rätsel der Namensgebung der Modellreihe Atlantic bei den Bastert-Fahrrädern eine gewisse Aufklärung zu erfahren.  Zugleich werden weitere Fragen aufgeworfen – womit wir abermals bei den Anfängen der Geschichte der MotorRoller angelangt sind:  Waren die Bielefelder Bastert-Werke vielleicht zumindest ideeller, wenn nicht auch rechtlicher Nachfolger der Berliner Atlantic AG für Automobilbau? Hat man bei der Entwicklung des Einspur-Automobils in den 50ern den Berliner Einspurwagen von 1921 als Vorbild im Auge gehabt? Da gibt es wohl noch Manches historisch aufzuarbeiten.

Einfacher zu beantworten ist die folgende Frage: Wie ging es unabhängig davon mit dem Passagierschiff weiter?

Die SS Altantic wurde interessanter Weise 1971 zur Universität auf See umfunktioniert. Bis 1989 beherbergte sie insgesamt über 20.000 Studenten, ca. 500 pro Semester und 60 Lehrkräfte.

Man erfährt und lernt Einiges nebenbei, wenn man sich mit alten Rädern befasst…

Meine Einspur-Atlantic ohne Motor wurde immerhin in den 1990ern, als die Berliner Atlantic AG, die Bastert-Werke und die SS Atlantic bereits entsorgt bzw. gewissermassen in Rente waren, von einem Studenten noch über Jahre genutzt. 1994 auch an der Küste des Atlantik, die Bretagne durchquerend, von Saint-Nazaire bis Quimper, schwer beladen mit 4 Fahrradtaschen, Zelt, Campingausrüstung usw. Das Rad für diese Reise zu verwenden war damals einfach zu verlockend; ich hätte zwar auch ein leichteres Trekkingrad zur Verfügung gehabt, aber der Name Atlantic passte einfach und die Aussicht auf ein Abenteuer, mit diesem alten Gaul…

Unterwegs klatschten damals einige Menschen in der Bretagne am Straßenrand Beifall –  der Radsport war vor 20 Jahren noch hoch angesehen, und wenn wir dopten, dann nur abends mit Cidre und Chouchenn.

Ich hatte der Atlantic vor der Reise eine Pentasport-5Gang-Nabe statt der 1Gang-Torpedo eingebaut, alles andere blieb erhalten. Die Rücktrittbremse funktionierte bestens, so dass auch die eher schwach wirkende Stempelbremse vorn dranbleiben konnte. Im damaligen Zustand  ist das Rad bis heute erhalten:

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